Ethische Leitplanken für den Umgang mit Armut in Indien

Reisen in Indien

Sebastian ZangGeschrieben von:

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Ob als Tourist oder Expatriate: Früher oder später trifft man in Indien auf Armut. Welche Reaktionen sind angemessen? Welche Antworten gibt es auf die ethischen Fragen, die mit einem solchen (emotionalen) Erlebnis verbunden sind? Sie finden in diesem Beitrag einige Leitgedanken (ohne Absolutheitsanspruch) für ein ethisches Verhalten in solchen Situationen.

Ethische Leitplanken für den Umgang mit Armut in Indien – Einführung

Die Weltgemeinschaft hat im Kampf gegen die Armut enorme Fortschritte gemacht: Zwischen 1990 und 2010 ist der Bevölkerungsanteil mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze von 52% auf 21% gesunken [Armutsgrenze = 1,25 Dollar/Tag]. Eine Quasi-Beseitigung der Armut bis 2030 wird für realistisch gehalten. [1]

Soweit die guten Nachrichten. Wer in den 2010er Jahren Indien bereist, wird noch immer auf Armut treffen. Ob als Expatriate oder als Tourist, die Frage bleibt die Gleiche: Wie gehe ich mit dieser Armut verantwortungsvoll um? Und: Gibt es im Angesicht der Armut eigentlich eine ethische Verpflichtung zu helfen? Letztere Frage mag zunächst irritieren: Einerseits verspürt sicherlich jeder den Reflex, im Angesicht massiven Hungers und bittenden Händen den Geldbeutel zu ziehen; wer kaltblütig den Kopf schüttelt, würde schnell als herzlos verschrien. Andererseits machen Hunderttausende von Touristen jedes Jahr Urlaub in Ländern mit hoher Armutsquote, ohne dass Geldspenden für Armutsbekämpfung oder für Bildungsprojekte in ebendiese Urlaubsländer fließen. So trivial ist diese Frage folglich nicht.

Nun haben ethische Überlegungen kaum je einen Absolutheitsanspruch, sie sind nicht zuletzt subjektiven Bewertungen unterworfen. Die nachfolgenden ethischen Leitgedanken haben darum keinerlei Anspruch auf Richtigkeit, schon gar nicht Absolutheit. Sie sollen jedem Indien-Reisenden lediglich eine Orientierung geben, mit den Fragen umzugehen, die sich im Angesicht hautnah erlebter Armut stellen.

Verantwortungsvoller Umgang mit Armut in Indien – Ethische Grundlagen

Betrachten wir eingangs eine ganz einfache Frage: Kann eine ethische Verpflichtung zum Helfen bereits daraus entstehen, dass ich in Indien Urlaub mache, wo es (massive) Armut gibt?

Es ist sicherlich zunächst zulässig, zunächst auf die positiven (armutslindernden) Aspekte einer Urlaubsreise nach Indien hinzuweisen: Jeder Tourist bringt Devisen nach Indien, Arbeitsplätze entstehen in der Bauindustrie, für Gastwirte, Hoteliers, Reisebegleiter, für Angestellte im Kunsthandwerk und so weiter. Gerade in der Reiseindustrie entstehen sogar überproportional Arbeitsplätze für unqualifizierte Arbeitnehmer, was der schlecht bis gar nicht ausgebildeten Bevölkerungsschicht besonders zu Gute kommt.

Werfen wir im zweiten Schritt einen Blick auf die möglichen negativen (armutsfördernden) bzw. die ethisch problematischen Aspekte des Tourismus in Indien. Grundsätzlich handelt es sich bei dem Tourismus nach Indien nicht um eine ethische zweifelhafte Form des Tourismus, wie beispielsweise der Sextourismus in Thailand; letztere Form des Tourismus könnte im Übrigen in der spezifischen Kultur Indiens keinen Fuß fassen. Aber es ist kritisch zu prüfen, ob der Tourismus nicht sogenannte „Crowding Out Effekte“ mit sich bringt. Konkret: Die Nachfrage nach Lebensmitteln durch Touristen führt zu einem Anstieg der Marktpreise, so dass Einkommensschwache aus dem Markt gedrängt werden („crowding out“). Der Blick auf die Statistik gibt jedoch schnell Entwarnung: Der internationale Tourismus macht in Indien nur 0,9% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus [2]. In dieser Größenordnung kann Tourismus kaum einen verzerrenden Effekt auf Lebensmittelpreise haben; dies wird besonders deutlich im Vergleich mit den relativen Tourismuseinnahmen anderer Länder. In Thailand liegt der BIP-Anteil des internationalen Tourismus bei 7,1%. Für europäische Länder liegen die gesamten Tourismuseinnahmen (also inklusive des inländischen Tourismus) bezogen auf das BIP fast durchgehend im zweistelligen Bereich: Frankreich 11%, Kroatien 25%, Deutschland 9%, Italien 10% [3, 4].

Auch eine Analyse der Effekte des Tourismus auf Erhalt/Zerstörung lebenswichtiger Ressourcen in Indien erweist sich als unkritisch für die einkommensschwache Bevölkerung, nicht zuletzt aufgrund der vergleichsweise unwesentlichen wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus. Hierbei geht es um Aspekte wie: Beschränkung des Fischfangs als Einkommensquelle in touristischen Gebieten; (Quasi)Enteignung von Anbauflächen für touristische Infrastruktur; Umleitung von Sozialtransfers in touristische Projekte.

Wie aus obiger Argumentation ersichtlich, lässt sich aus den allgemeinen Effekten des Tourismus auf die Lebensbedingungen der von Armut betroffenen Bevölkerung zunächst keine ethische Verpflichtung zum Handeln ableiten; eine analoge Argumentation lässt sich auch für Expatriates entwickeln. Eine unmittelbare ethische Verpflichtung gibt es hieraus folglich nicht. Was den trotzdem gefühlten „ethischen Handlungsdruck“ auslöst, lässt sich am ehesten mithilfe einer Ethik der unmittelbaren Handlungsalternativen erklären:
Nehmen wir an, Sie stehen vor der Wahl, 50 Euro zu spenden. Die Wahl besteht zwischen einem Projekt, wo mit 50 Euro ein Kind (in einem Entwicklungsland) für 5 Monate die Schulbildung finanziert wird. In einem zweiten Projekt würde ein Kind nur 3 Monate Schulbildung erhalten. Die Qualität der Schulbildung sei die gleiche. Die Wahl fiele in dem Fall nicht schwer: Die 50 Euro würden dem ersten Projekt zufließen, denn der ethische Nutzen der Spende (bzw. allgemein gesprochen: einer Handlung) wäre dort am höchsten – Ethischer Nutzen im Sinne einer utilitaristischen Sicht: „Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht!“

Sie geraten in eine ähnliche Entscheidungssituation, wenn Sie in einem Land wie Indien unmittelbar mit der Armut konfrontiert werden: Als Expatriate in einer Stadt wie Mumbai oder Delhi kommen Sie beispielsweise immer wieder in unmittelbare Sichtweite von Slums. Diese Slums sind zwar durchaus weit mehr als „Armensiedlungen“, nämlich auch Übergangsstationen für Zugewanderte in ein besseres Leben. Dennoch, nach westlichen Begriffen herrscht dort in Teilen schmerzhafte Armut bzw. Knappheit. Sie sind nun als Expatriate auf dem Weg zu einem Dinner, wo Sie 20 EUR für ein Abendessen in einem Restaurant mit internationaler Küche ausgeben werden. Nun wissen Sie gleichzeitig, dass von diesem Betrag eine 4-köpfige Familie eine ganze Woche leben könnte (das ist kein Witz). Der ethische Nutzwert für beide „Investitionen“ ist also dramatisch unterschiedlich, und ebendiese unbewusste ethische Nutzwertbestimmung führt zu einer schmerzhaften Dissonanz. Gleiches gilt natürlich auch für den Touristen.

Der Einwand, dass diese Handlungsalternative ja genauso im deutschen Wohnzimmer besteht, wo Sie jederzeit ein Spendenformular ausfüllen könnten, greift nicht – zumindest nicht emotional: Das Erlebnis einer unmittelbaren Konfrontation mit Armut erreicht eine emotionale Tiefe, die die bloße Lektüre eines Zeitungsartikels über Armut oder eine Reportage nie evozieren können. Die ethische Verpflichtung zum Helfen ist im deutschen Wohnzimmer eigentlich nicht geringer als beim Urlaub in Indien, sofern man das gleiche Wissen über die Ungleichverteilung der Ressourcen unterstellt. Jedoch wird dem Expatriate/Touristen diese Ethik der unmittelbaren Handlungsalternativen in Indien so brutal deutlich … und der süße Schleier des Nichtwissens löst sich unwiderruflich auf.

Verantwortungsvoller Umgang mit Armut in Indien – Handlungsempfehlungen

„How do you cope with the poverty? That must be the question I have been asked most frequent by visitors to India. I often reply, I don’t have to. The poor do.“ So leitet Mark Tully sein Buch “No full stops in India” ein [5]. Mark Tully, Leiter des BBC Korrespondenzbüros in Indien von 1972 bis 1994, zeichnet sich durch profunde Indienkenntnis aus und eben diese Haltung zu Armut, die dem einen zynisch erscheint, dem anderen als legitimer Schutz gegen eine Dauerdepression über den ungerechneten Zustand der Welt.

Tully mokiert sich nur wenige Zeilen nach dieser Einleitung kopfschüttelnd über die Inkonsequenz seiner Gäste, die von der Frage nach dem richtigen Umgangs mit der Armut augenscheinlich so sehr umgetrieben werden: „My foreign guests expect the taxi-drivers to take them back to their hotels whatever hour of the night it may be. Before leaving, they will check the fare with me to make sure the taxi-drivers don’t get a few more rupees than they are due. That’s the way my guests usually cope with the poverty.”

Der Umgang mit Armut in Indien ist zugegebenermaßen nicht leicht. Weder kann man selbstgerecht erklären: “Der soll doch was arbeiten!”. Das funktioniert nicht in einem Land, das zu wenige Arbeitsplätze bietet, schwierige Rahmenbedingungen für Unternehmer und eine nach internationalen Standards mangelhafte Bildung an öffentlichen Schulen (Vergleiche den Artikel: Wie gut ist das Schulsystem in Indien). Noch erweist sich die Forderung eines bedingungslosen Christentums als praktikabel, sein gesamtes Hab und Gut aufzugeben; es gibt nur wenige Christen, die den Zustand der Selbstlosigkeit erreicht haben, und das Problem der Armut lässt sich nicht einfach auf einen Mangel an finanziellen Ressourcen reduzieren. Wie also würde ein „guter Christ“ handeln?

Zum einen gebietet eine aufgeklärte Haltung, sich bestimmten „Phänomenen der Armut“ gegenüber respektvoll bzw. geduldig zu verhalten, die auf den ersten Blick aufdringlich erscheinen: Strandverkäufer mit Früchten, Verkäufer von Sonnenbrillen in Bangalores „Brigade Road“ oder Kindern am Straßenrand von Delhi, die zunächst akrobatische Kunststücke an einer Kreuzung aufführen und dann an den Scheiben wartender Autos um einen Groschen bitten. Mit dem Geldbetrag für einen Hin-/Rückflug Deutschland/Indien kann sich im ländlichen Indien eine mehrköpfige Familie für ein ganzes Jahr ernähren. Wen überrascht es also, dass jeder Weiße als Quelle schier unerschöpflicher Ressourcen gesehen wird? Jeder erfahrene Vertriebsmann versucht es zunächst bei den zahlungskräftigsten potentiellen Kunden.

Zum anderen ist eine gewisse Nüchternheit durchaus angemessen. Die erste emotionale Reaktion weist nicht zwangsläufig den Weg in die richtige Richtung. Können Sie wirklich wissen, wer aus einer Gruppe bettelnder Kinder das Bedürftigste ist? Ob ein 100-Rupien-Schein überhaupt Linderung von Hunger bringt, oder nicht in den Händen eines versoffenen Hausherren landet, der damit in den nächsten Todi-Shop geht? Die Herausforderung der Armutsbekämpfung ist alles andere als trivial, Heerscharen von Entwicklungshelfern haben über Jahrzehnte hinweg viel Lehrgeld gezahlt. Eine emotionale Reaktion macht Sie nicht bereits zum Spezialisten für Armutsbekämpfung. Ich persönlich zahle eine regelmäßige Spende an eine private Hilfsorganisation („Forderkreis Indienhilfe e.V.“, Gießen), ich entlohne Rikshaw-Fahrer und sonstige Dienstleister mit einem „westlichen“ Trinkgeld, halte mich aber bei Almosen zurück. Ich überlasse das den Spezialisten. Hier einige ausgewählte private Hilfsorganisationen bzw. Initiativen mit Fokus auf Indien, wo Spenden effizient eingesetzt werden:

Außerdem: Spendenratgeber Indien

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[1] „Growth or safety net“, The Economist Asien-Edition, 21.09.2013, Seiten 53ff.
[2] “Länderreport Indien” der Wirtschaftskammer Österreich, Oktober 2013, http://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-indien.pdf
[3] „Thailands Tourismusbranche meldet neue Rekorde“, 19.12.2012, Online-Ausgabe von „Germany -Trade & Invest“, http://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/maerkte,did=730010.html
[4] „FACTBOX: Tourism as a share of European nations’ GDP”, 06.04.2009, Informationsdienstleister Reuters, http://www.reuters.com/article/2009/04/07/us-tourism-europe-sb-idUSTRE53601D20090407
[5] “No full stops in India”, Mark Tully, Penguin Books, 1991, Seite 1

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