Tausend-und-Einen Tag (beruflich) in Indien – eine Zwischenbilanz

Wirtschaft

Sebastian ZangGeschrieben von:

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Berufliche Entsendung nach Indien: Wieviel Vorfreude ist da angebracht, wieviel Vorbereitung und wieviel Vorsicht? Mit Sicherheit erwartet Sie ein (bereicherndes) Abenteuer, Momente der Faszination, ein echter Kulturschock und manchmal Situationen verzweifelter Hilfslosigkeit. Eine Zwischenbilanz über Tausend-und-Einen Tag in einem Land voller Dynamik, Armut, Vielfalt, voller Extreme, Unvorhersehbarkeit und erstaunlicher Menschen.

Tausend-und-Einen Tag (beruflich) in Indien – Intro

Die beste Vorbereitung auf Indien ist die mentale Einstellung auf das Unvorhersehbare, bisweilen das Unvorstellbare. Wie gut auch immer die Vorbereitung, das (kulturelle) Training, der Erfahrungsaustausch im Vorfeld: Indien bleibt und ist ein Abenteuer – ein bereicherndes Abenteuer.

Tatsächlich gilt Indien unter deutschen Führungskräften gemeinhin nicht als Wunschdestination, viele deutsche Unternehmen haben Schwierigkeiten, Expatriates für Tochtergesellschaften in Indien zu finden. Auch das Personal des deutschen Staates tut sich nicht leicht: Kurz nach meiner Ankunft in Bangalore Ende 2011 erklärte mir ein Mitarbeiter des deutschen Generalkonsulats, die Entsendezeit nach Bangalore/Indien sei kürzer gegenüber anderen Standorten, da Indien als schwierig gelte. Soweit die Ausgangsbedingungen.

Meine eigene berufliche Mission in Indien beginnt Anfang 2011: Gemeinsam mit weiteren Gründern des Softwarehauses Categis GmbH diskutieren wir meinen Vorschlag, ein IT-Entwicklungszentrum im „Silicon Valley Indiens / Bangalore“ zu gründen. Meine Frau ist Deutsch-Inderin (Ausbildung, Arbeitserfahrung in beiden Ländern), ein gemeinsamer Lebensabschnitt in Bangalore war für uns beide eine interessante Option. Oktober 2011 fällt der Startschuss: Umzug nach Indien, Unternehmensgründung, Einstellung der ersten Mitarbeiter ab Februar 2012.

Hier eine Zwischenbilanz nach Tausend-und-Einem Tag in Indien …

Tausend-und-Einen Tag (beruflich) in Indien – Lebensqualität & Positive Diskriminierung

Auf die Frage „Wie hoch ist die Lebensqualität in Indien?“ gibt es keine einfache Antwort, zumindest ist eine Differenzierung angemessen. Orientiert man sich an internationalen Studien zur Lebensqualität von Metropolen, so schneiden Indiens Städte nur im Mittelfeld ab. Die Stadt Bangalore beispielsweise belegt nach der Studie „Quality of Living Reporting – Edition 2012“ der Unternehmensberatung Mercer die Bestplatzierung unter den indischen Städten – im internationalen Vergleich ist das Platz 141. Immerhin. Hier ist zu bedenken, dass Städte wie Zürich, New York oder Berlin aus Industrieländern natürlich über weit höhere Budgets bei Investitionen in öffentliche Infrastruktur verfügen.

Lebensqualität misst sich an einer Vielzahl von Faktoren, die individuellen Präferenzen und die Rahmenbedingungen sind hier ausschlaggebend. Je nach persönlicher Gewichtung von Kriterien kann das sehr unterschiedlich ausfallen. Einige Expats fangen bereits kurz nach der Ankunft an, die Tage bis zur Rückkehr zu zählen; andere leben seit Jahren in Indien und können sich eine Rückkehr kaum mehr vorstellen. Hier einmal die Stimme eines deutschen Managers, Gerd Höfner (zum Zeitpunkt der Artikelveröffentlichung „Managing Director and CEO at Siemens Technology India“). „In den zehn Jahren, die ich jetzt in Bangalore lebe, hat sich unheimlich viel getan: Die Stadt ist um knapp drei Millionen Einwohner gewachsen, mittlerweile arbeiten hier mehr Menschen in der IT als im Silicon Valley. Es wurde eine U-Bahn gebaut, ebenso wie Ringstraßen und Einkaufszentren. Am Anfang gab es hier nur zwei Supermärkte, jetzt bekommt man fast alles. Nur deutsches Brot und Käse vermisse ich manchmal. Ich fühle mich hier wohl, so dass ich mir eine Rückkehr nach Deutschland im Moment nur schwer vorstellen kann.” (vgl. auf Spiegel-Online: Arbeiten in Indien: Wenn der Priester den Computer segnet)

Einige Aspekte des Lebens in Indien als Deutscher haben einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Lebensqualität. Hier ist beispielsweise zu nennen, was gemeinhin als „positive Diskriminierung“ bezeichnet wird: Deutsche (im Allgemeinen: Westeuropäer, US-Amerikaner) genießen einen hohen sozialen Status, was zum einen in der Annahme gründet, dass Westeuropäer grundsätzlich wohlhabend sind (im Schnitt und im Vergleich zur indischen Bevölkerung eine valide Annahme); zum anderen liegt die Ursache darin, dass Inder aus höheren Kasten in der Regel eine hellere Hautfarbe haben („wheatish complexion“), weshalb eben diese hellere Hautfarbe mit hohem sozialen Status assoziiert ist. In dem Zusammenhang sollte man auch durchaus erwähnen, dass die „deutsche Ingenieurskunst“ in Indien höchste Wertschätzung genießt. Wer einmal in einem indischen Elektrofachmarkt die riesigen Aufkleber mit Deutschlandflagge auf Waschmaschinen von Siemens und Bosch gesehen hat, kann sich davon ein Bild machen. Nun, was bedeutet „positive Diskriminierung“ letztlich für die Lebensqualität? Ganz einfach: Respekt, Anerkennung (vgl. die Kernthese in dem Buch „Abenteuer des Zusammenlebens – Versuch einer allgemeinen Anthropologie“ des Soziologen Tzvetan Todorov: Der Wunsch nach Anerkennung durch die Anderen ist Ausgangspunkt aller sozialen Handlungen).

Mit einer mindestens ebenso Bedeutung für die Lebensqualität: Die niedrigen Lebenshaltungskosten. Gemeinhin liegt die Kaufkraft eines Euros in Indien etwa 3 (!) Mal höher als in Deutschland. Dieser Kaufkraft-Multiplikator ist in Indiens Großstädten sicherlich geringer, aber gerade Dienstleistungen (im weiteren Sinne) sind auch in Großstädten noch bemerkenswert kostengünstig. Grund: Kostengünstige Arbeitskräfte. So gehe ich beispielsweise regelmäßig bei einem Restaurant unweit unserer Niederlassung Mittag essen, nämlich im Anjappar – Chettinad Indian Restaurant: Dort gibt es ein exzellentes „Thali“ (Mittagsmenü in Indien) in gepflegter Atmosphäre und inklusive dezenter Klimatisierung für umgerechnet 2,50 EUR. Sparfüchse finden ein anständiges Thali auch für 1 EUR. Auch in einem Restaurant mit „westlicher“ oder „exotischer“ Speisekarte (mein Favorit: Smoke House Deli) liegt man unter den Preisen, die man aus deutschen Städten kennt. Eine Rickshaw-Fahrt von 10 Kilometern kostet umgerechnet etwa 1,50 EUR. Die indische Mittelklasse (ebenso wie die Mehrheit der Expats) beschäftigen Haushaltshilfen, die zwischen 80 und 120 EUR pro Monat (!) kosten.

Indien ist in vielerlei Hinsicht eine Dienstleistungsgesellschaft, nicht zuletzt wegen der hohen Verfügbarkeit an (geringqualifizierten) Arbeitskräften und niedrigen Arbeitskosten. „Home Delivery“ (=“Lieferung frei Haus“) ist für viele Restaurants Standard. Ein ähnliches Konzept heißt „Doorstep Service“ und wird von unserer Hausbank (Deutsche Bank AG, M.G. Road / Bangalore) angeboten: Für alle Bankgeschäfte kommt ein Bankvertreter in unser Büro. Sogar Apotheken bieten Bestellung per Telefon inkl. Lieferung frei Haus (z.B. Fama Balaji, #514/1, CMH Road, Indiranagar), Gleiches gilt für vereinzelte Supermärkte. Die Apollo Klinik, eine der Krankenhausketten in Indien, bietet sogar einen Doorstep-Service für Blutproben: Eine Krankenschwester bzw. ein Krankenpfleger kommt zu den Patienten nach Hause, um für (regelmäßige) Analysen die Blutprobe zu nehmen.

Zu diesen Pluspunkten Indiens in punkto Lebensqualität kommt noch hinzu, dass das Klima für Wärmeliebende in einer Stadt wie Bangalore ganzjährig frühlingshaft bis sommerlich ist. Im „Winter“ (Dezember, Januar) fallen die Temperaturen tagsüber kaum unter 15 Grad. Dafür klettert im Hochsommer (April, Mai) das Quecksilber auf bis zu 38 Grad (inzwischen ja auch im deutschen Hochsommer keine Seltenheit mehr). Und last but not least: Wer keine Lust auf einen beschaulichen Alltag hat, für den bietet Indien natürlich echtes Abenteuer.

Zu den Kritikpunkten Indiens in punkto Lebensqualität zählen vor allem der anstrengende und zeitraubende Verkehr (v.a. in Städten wie Bangalore oder Mumbai), ein verhältnismäßig hoher Lärmpegel und gewöhnungsbedürftige Begegnungen mit Ekeltieren wie Kakerlaken in Küche und Badezimmer (klimabedingt, in der Regel nachts). Indischen Metropolen fehlt leider auch das markante, charmante Stadtbild, was den Reiz von Cities wie München, Berlin, Paris, Barcelona oder Rom ausmacht (wenngleich es eine Vielzahl von guten Bars, Cafés und Restaurants gibt): mußevolles Flanieren findet hier eher in Shopping Malls statt, nicht in öffentlichen Räumen wie den Champs Elysées oder „Unter den Linden“. Außerdem liegen die Qualitätsstandards in Indien in einigen Bereichen unter dem gewohnten deutschen Standard, z.B. in punkto Sauberkeit, Müllentsorgung oder Bauqualität von Gebäuden. In regelmäßigen Abständen tut es also Not sich daran zu erinnern, dass man in einem „Emerging Country“ lebt, das vor nicht allzu langer Zeit noch den Status eines Entwicklungslandes innehatte. Vergleiche dazu auch folgenden Artikel: Biedermann auf Urlaub in Indien – eine satirische Kolumne.

Tausend-und-Einen Tag (beruflich) in Indien – Getting things done im Unternehmen

Indien ist anders. Indien ist eine beziehungsorientierte Gesellschaft. Indien hat ein niedrigeres Qualitätsbewusstsein. Ja richtig, alles No-brainers aus Ratgebern und Vorbereitungsseminaren für Manager auf Entsendung in Indien. Die Implikationen sind tiefgreifend: Zahlreiche Unternehmensprozesse nach deutschem Muster funktionieren in Indien kaum oder nur eingeschränkt. Die Kernherausforderung besteht nun darin abzuwägen, wo Prozesse an indische Rahmenbedingungen anzupassen sind und wo wiederum kontinuierliche Schulung Sinn macht, um bewährte Prozesse zu etablieren. Dazu ist es wichtig, eine hohe Transparenz über die gesamte unternehmerische Wertschöpfungskette zu schaffen, so dass Steuerungsbedarfe sofort sichtbar werden. Bei Fehlentwicklungen ist es im nächsten Schritt wichtig, mit Mitarbeitern auf allen Ebenen zu sprechen, um Prozesse in der Praxis im Detail zu verstehen. Management im indischen Kontext erfordert darum sowohl eine hohe Lernbereitschaft/Neugier hinsichtlich des indischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems als auch eine kontinuierliche Bereitschaft zum Error-and-Trial bei der Optimierung von Unternehmensprozessen.

Das soziale und wirtschaftliche System Indiens funktioniert auf Basis von Netzwerken. Das ist das zentrale Funktionsprinzip Indiens, das man nicht früh genug verinnerlichen kann, wenn man in Indien Erfolg haben möchte. Das beginnt bei einfachen Dingen wie einem Telefonanschluss in Ihrem Appartement: In Deutschland würden Sie Preise verschiedener Telekommunikationsanbieter vergleichen, dann online oder telefonisch einen Telefonanschluss beantragen. Sie könnten das in Indien ebenso angehen, aber Sie ahnen bereits was passieren würde: Eine kafkaeske Erfahrung, bei der Sie wochenlang diversen Ansprechpartnern von Airtel oder BSNL hinterhertelefonieren und immer wieder vergeblich auf Systemtechniker warten, die zum verabredeten Zeitpunkt weder auftauchen noch telefonisch erreichbar sind. Der Königsweg: Identifizieren Sie eine Person (aus Ihrem Netzwerk), die wiederum selbst ein Netzwerk von Ansprechpartnern in ein Telekommunikationsunternehmen haben. Es ist bisweilen erstaunlich, in welcher Geschwindigkeit Sie bei dieser Herangehensweise zum Ergebnis kommen. Andere Beispiele: Sie müssen Ihren deutschen Führerschein übertragen lassen. Sie brauchen einen Innenausstatter für ein neu einzurichtendes Büro in Ihrem Unternehmen. Sie suchen eine zuverlässige Haushaltshilfe. Vergessen Sie die Gelben Seiten. Die Antwort: Netzwerk! Und dieses (Ihr) Netzwerk beginnt bei Expats anderer Unternehmen und hört beim Hausmeister in Ihrem Unternehmen nicht auf.

Eine der typischen Herausforderungen in Indien ist das Thema Qualitätsmanagement. Hierfür gibt es keine einfache Antwort, hierfür ist eine Vielzahl von Maßnahmen erforderlich. Wie bereits eingangs erwähnt, ist eine hohe Transparenz über den unternehmerischen Wertschöpfungsprozess erforderlich, insbesondere über Qualitätskennzahlen/-indikatoren. Zusätzliche Prozesse zur Qualitätssicherung sind eine Herangehensweise; weit wichtiger ist es jedoch, Verantwortungsbewusstsein bei jedem Mitarbeiter zu entwickeln. Dies erfordert meist ein „Brechen der für Indien typischen Hierarchien“, um ein mechanisches, unreflektiertes Abarbeiten von Vorgaben (insbesondere bei Sachbearbeitern) zu vermeiden. Das bedeutet flache Hierarchien, Erläuterung übergeordneter Projektziele an alle Prozessbeteiligten, Fehlertoleranz in der Anfangsphase, adäquate Schulung (sowohl in Methodik als auch zum Querdenken) – und Geduld. Auf der Beziehungsebene sind kontinuierliche Signale des Vertrauens erforderlich, um Mitarbeiter an die neue Rolle heranzuführen. Vergleiche auch den Artikel: Wie verantwortungsbewusst sind Mitarbeiter in Indien?. Hohe Qualitätsstandards sicherzustellen heißt auch, eine hohe Leistungskultur im Unternehmen sicherzustellen. Keine einfache Aufgabe. Meiner Erfahrung nach zwingt dies zu einer Nulltoleranz gegenüber Low Performern ohne Lernbereitschaft. Kurz: Kündigungen. Das zählt zweifelsohne zu den emotional schwierigsten Entscheidungen eines Unternehmers/Managers, wie auch immer gerechtfertigt ein solcher Schritt sein mag. Nichtsdestotrotz, wer die Verantwortung für ein Tochterunternehmen in Indien bzw. den Standort Indien ernst nimmt, wird sich mit dieser ethischen Dimension des Managements in Indien unbedingt auseinander setzen müssen.

Der Bereich Recruiting und Personalmanagement ist einer der Bereiche, die in Indien besonders herausfordernd sind. Hierzu finden Sie einen guten Überblick in meinem folgenden Artikel: Unternehmensaufbau in Indien – Ein Erfahrungsbericht.

Weitere Infos auf indienheute …

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157 Responses to " Tausend-und-Einen Tag (beruflich) in Indien – eine Zwischenbilanz "

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